Um viertel nach zehn hat die Fähre an der Küste abgelegt und Kurs auf die Insel genommen. Es ist viertel nach elf, als ich über den Süddeich zum Dorf schlendere. Die Natur hat mir fast eine Stunde geschenkt. Planmäßig wäre die Fähre um 11 Uhr abgefahren, würde die Gäste erst jetzt durch die Hafenausfahrt des Fischerdorfs tragen. Der Fahrplan musste geändert werden, weil die Natur eigene Pläne hatte. Die Fährzeiten sind abhängig von der Natur, von ihren Launen und Rhythmen. Schuld ist heute der Ostwind. Das Wasser kommt bei Flut aus Nord-West, und der Ostwind drückt das Wasser zurück ins Meer. Nur einige Stunden vor und nach Hochwasser ist genügend Wasser in der Fahrrinne, damit das Schiff fahren kann, ohne sich im Watt festzufahren; bei Ostwind ist die Zeitspanne entsprechend kürzer.
Ohnehin sind die Abfahrtszeiten der Fähre jeden Tag anders: tideabhängig, wie es genannt wird. Ebbe und Flut bestimmen das Leben an der Küste, richten sich nicht nach der Uhrzeit, kommen nicht im Rhythmus von 24 Stunden. Das irritiert den, der gewohnt ist, daß sein Zug immer um 8.42 Uhr abfährt, egal ob die Sonne scheint, ob es regnet oder stürmt. Ob es Zeit ist oder nicht, sagt ihnen nicht das Licht, schon gar nicht die Sonne, sondern ein Blick auf die Uhr.
Zeit ist objektiv, sagt die Physik, und hat das Zeitverständnis geprägt. Das Zeitempfinden sagt oft etwas anderes. Zehn Minuten beim Zahnarzt dauern ewig, zehn Minuten eines spannenden Films vergehen wie im Flug. Daß die Uhrzeit nicht das Maß aller Dinge ist, macht die Natur jeden Tag vor. Am Strand kann man das Kommen und Gehen des Wassers beobachten. Von einem Hochwasser bis zum nächsten dauert es ungefähr zwölfeinhalb Stunden, aber eben nur ungefähr. Dadurch verschieben sich die Hochwasserzeiten jeden Tag ein wenig. Das ist gelegentlich ärgerlich, wenn man schwimmen will, aber man kann sich dann am Blick auf das Watt erfreuen. Das ist der Rhythmus der Natur, begrenzt berechenbar, nie zu beherrschen. Für aufmerksame Zeitgenießer sind die tideabhängigen Fährzeiten unserer Insel jedoch nicht nur eine Einschränkung. Denn das ist Urlaub im Einklang mit dem Rhythmus der Natur, noch bevor er anfängt.
Wer das so sehen will, darf nicht nur im Takt der Uhrzeit leben wollen. Am Puls der Uhrzeit schlägt der Takt, der Herzschlag des modernen Lebens. Er ist so künstlich wie die abstrakte Uhrzeit. Er zerstückelt, was zusammengehört und reißt die Zeit in gleich große Teile: monoton, exakt und starr. Flexibilisierung verspricht, uns vom Takt zu befreien – und bricht ihr Versprechen, wenn sie sich durchsetzt. Im Ergebnis wird der Takt beschleunigt und pausenlos: Niemand darf aus dem Takt kommen. Wer nicht mehr mitschwimmt im Strom der Zeit, macht etwas falsch. Der Takt hat aber noch eine zweite Wortbedeutung, die gerne übersehen wird, nämlich Rücksichtnahme. Die Bedingungen der natürlichen Umwelt und die Bedürfnisse der menschlichen Natur sind wichtige Zeitgeber, mit denen wir leben müssen, leben dürfen. Mit der Überfahrt bin ich gezwungen, mich dem Rhythmus der Natur zu unterwerfen. Doch diese Abhängigkeit befreit mich aus dem Zwang, meine innere Natur dem Takt der Maschinen zu unterwerfen. Auf dem Weg zur Insel beginne ich, in und mit der Zeit zu leben. Uhrzeit ist Uhrzeit, halb acht ist halb acht, aber die Uhrzeit ist nicht die Ur-Zeit.
Eine Naturzeit tragen wir stets in uns: unseren Biorhythmus, den Wechsel von starken und schwachen Phasen. Das gilt für alle Menschen. Doch jeder hat seinen eigenen Rhythmus. Hoch- und Tiefphasen unterscheiden sich von Typ zu Typ um mehrere Stunden. Diese inneren Uhren gehen ungenau, der Körper paßt sich an: an den Wechsel von hell und dunkel oder an Geräusche als Zeichen für Aktivität.
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Den größten Einfluß hat die Sonne. Licht ist der wichtigste Zeitgeber, Dunkelheit das Signal für Ruhe. Nachts will der Körper schlafen. Autofahrer und Piloten machen nachts mehr Fehler. Menschliches Versagen bedeutet oft: Jemand war zu einer Zeit aktiv, als sein Körper Ruhe brauchte. Nichts spricht gegen eine durchgemachte Nacht, nur darf man nicht jede Nacht zum Tage machen. Der Pulsschlag des Meeres sind Ebbe und Flut, und auch wenn sich die Uhrzeit danach nicht richtet, der Fahrplan muss es. Diese Abhängigkeit wird zur Freiheit, denn sie zeigt: Die Uhrzeit ist nicht das Maß aller Dinge.
Auf der Insel entdecke ich die Freiheit, weil ich abhängig bin: die Freiheit, in Harmonie mit der Natur zu leben, nicht im Widerspruch, im Wettstreit mit ihr. Dieser Wettstreit kennt keinen Gewinner, auch nicht den, der es für ein Menschenrecht hält, nachts um vier Uhr Miniröcke oder Tiefkühl-Pizza kaufen zu können. Aus dem Drang nach Beherrschung der Natur ist Selbstbeherrschung geworden, aus dem Drang nach Freiheit Selbstkontrolle. Die Zivilisation ist die Geschichte des Kampfes gegen die Natur, um sie zu beherrschen, mit Uhren und Maschinen, mit Strom und künstlichem Licht, der Versuch eines Lebens unabhängig von Sonnenlicht und Regen, von Wind und Tageszeit. Doch der Mensch endet in seinem eigenen Labor als Versuchskaninchen, das seine selbst erzeugte Abhängigkeit nicht erkennt – bis er auf der Insel den Zwängen wiederbegegnet, denen er einst zu entfliehen versuchte und begreift: Wie groß ist die Freiheit unter der Abhängigkeit der Natur!
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